Gefragt nach ihren größten Herausforderungen beim Schreiben, antwortete mir kürzlich eine Seminarteilnehmerin: „Ich denke meist erst während des Schreibprozesses, sodass ich teilweise zu Beginn des Textes das Ergebnis noch nicht 100-prozentig klar vor mir sehe – daran würde ich gerne arbeiten.“
Daran arbeiten, dass man vor dem Schreiben schon weiß, wie der Text nachher aussehen wird? Müssen unsere Gedanken schon fertig sein, bevor wir sie aufs Papier bringen dürfen? Woher haben wir diese Vorstellung, dass wir schreibend das im Kopf bereits vorhandene, klare und fest gefügte Wissen nur abbilden, darstellen, wiedergeben? Ist etwas Schlimmes daran, vor dem Schreiben noch nicht genau zu wissen, wohin der Text geht?
Nein, das ist es nicht! Im Gegenteil: Wenn wir unseren Text vor dem Schreiben komplett und nur im Kopf durchplanen, entgeht uns eine Dimension des Schreibens, die für mich immer das Faszinierende daran ausgemacht hat: die Möglichkeit, schreibend erst Gedanken und Zusammenhänge zu entwickeln, die mir vorher gar nicht bewusst waren! Anders ausgedrückt: sein schöpferischer und denkfördernder Anteil. Darüber hinaus hindert uns die Vorstellung, schon alles vor dem Schreiben durchgeplant haben zu müssen, häufig am Losschreiben – wir bringen einfach keinen Satz aufs Papier, sind blockiert.
Mir fällt zu diesem Thema immer wieder mein Schlüsselerlebnis in puncto Schreiben ein: Ich sitze in der Deutschstunde und soll ein Gedicht interpretieren. Oh Gott …! Ich lese die Verse, ich schaue auf den Text und habe keine Ahnung, was der Dichter damit ausdrücken möchte. Müsste ich diese Aufgabe mündlich erfüllen, ich wüsste kaum etwas zu sagen – allzu dürftig erscheint mir zumindest das, was ich spontan an Gedanken dazu in meinem Kopf finde.
Anstatt aber zu sitzen und auf Inspiration und Einsicht verzweifelt zu hoffen, schreibe ich einfach los. Ich fange mit dem Simpelsten, Offensichtlichen an und formuliere einen Satz, in dem der Titel des Gedichts und der Name des Dichters vorkommen. (Leider habe ich beides vergessen.) Dann taste ich mich an den Inhalt heran, schreibe den zweiten und merke beim dritten Satz, wie ich mich hineinschreibe in das Gedicht, wie sich das zunächst undurchdringlich scheinende Wortdickicht nach und nach lichtet. Mit der Zeit gewinne ich Zutrauen zu den Gedanken und Deutungen, die sich dabei formen. Ich merke, dass Zusammenhänge entstehen, die sinnvoll sind und mich immer weiter tragen. Ich gerate in einen Schreibfluss, in dessen Verlauf sich mir Vers ums Vers, Strophe um Strophe das gesamte Gedicht erschließt. Das macht sogar Spaß!
Wie geht das? Was passiert hier? Während wir Wörter finden und Sätze formulieren, denken wir parallel bereits voraus. Das Schreiben regt also das Denken an, öffnet Geist und Sinne für Assoziationen und führt uns zu Einsichten, die uns vorher so nicht klar vor Augen standen. Die Schreibberaterin Ulrike Scheuermann nennt dieses Phänomen „Schreibdenken“* – analog zum „Sprechdenken“, bei dem etwas Ähnliches während des Sprechens passiert.
Beide Fähigkeiten können besser oder schlechter ausgeprägt sein, lassen sich aber in jedem Fall trainieren. Bei mir war das Schreibdenken eine Riesenentdeckung, während mir das Sprechdenken nicht wirklich lag. Das habe ich zwar seitdem etwas trainiert, aber Schreibdenken funktioniert immer noch sehr viel besser.
Es gibt verschiedene Wege zum Schreibdenken: Sie können zum Beispiel einfach mal zehn Minuten frei zu Ihrem Thema unzensiert schreiben. Diese Methode nennt sich Fokussiertes Freewriting und ist in unserem Blogartikel „Wie Sie Schreiben als Innovationswerkzeug nutzen“ im Kasten beschrieben. Eine weitere Möglichkeit ist das Clustern nach Gabriele L. Rico**. Hierbei breiten Sie assoziativ Ihr Wissen zu einem Thema vor sich aus und erschließen sich die Zusammenhänge visuell.
Wenn Sie das Gefühl haben, alles zum Thema aufgeschrieben zu haben, beenden Sie das Clustern und schreiben Sie einen Text mit den Wörtern und Ideen aus Ihrem Cluster.
Meine Seminarteilnehmerin konnte ich so beruhigen – und Sie hoffentlich auch. Es ist völlig in Ordnung, wenn sich Gedanken erst während des Schreibens klären, mehr noch: Sie können und sollten diese Qualität des Schreibens ganz bewusst einsetzen.
Wenn Sie also wieder einmal vor Ihrem weißen Blatt sitzen und sich nicht trauen loszuschreiben, weil Sie das Gefühl haben, noch nicht völlig klar zu sehen, drehen Sie das Blatt einfach quer und clustern Sie munter drauflos. Der Impuls zum Losschreiben stellt sich im richtigen Moment ganz von alleine ein. Dabei wird noch keine druckreife Fassung entstehen, aber das verlangt ja an diesem Punkt auch niemand. Was aber dabei entstehen kann, sind fundierte Gedanken, Klarheit über Ihre Botschaften und eine tiefere Einsicht in die fachlichen Zusammenhänge, die Sie in Ihrem Text darstellen wollen.
Übrigens: Georg Christoph Lichtenberg hat dieses Phänomen schon vor ungefähr 250 Jahren so ausgedrückt:
„Zur Aufweckung des in jedem Menschen schlafenden Systems ist das Schreiben vortrefflich und jeder, der je geschrieben hat, wird gefunden haben, dass das Schreiben immer etwas erweckt, was man vorher nicht deutlich erkannte, ob es gleich in uns lag.“
*Vgl. Ulrike Scheuermann (2009): Schreibdenken. Schreiben als Denk- und Lernwerkzeug nutzen und vermitteln, Opladen & Toronto (UTB 2687)
**Vgl. Gabriele L. Rico (2007): Garantiert schreiben lernen, Reinbek bei Hamburg, 2. Aufl., S. 35 f.