Fällt es Ihnen manchmal schwer, Ihre Texte loszulassen? Überarbeiten Sie sie lieber noch einmal und noch einmal, feilen hier an einem Satz und dort, lesen den Text zwei-, drei-, viermal Korrektur, bevor Sie ihn – oft mit dem mulmigen Gefühl, bestimmt etwas übersehen zu haben – herausschicken? Dann sind Sie wahrscheinlich Perfektionist.
Vor kurzem fragte eine Seminarteilnehmerin, wie sie ihren Perfektionismus beim Schreiben überwinden könnte. Sie schrieb seit vielen Jahren routiniert, ihre Texte waren professionell. Und doch war sie unsicher, wann sie fertig sei, nie wirklich zufrieden, strebte den perfekten Text an.
Sie wusste: Wie bei vielem im Leben greift hier das Pareto-Prinzip: 20 Prozent der Arbeit bringen 80 Prozent des Ergebnisses. Für die restlichen 20 Prozent musste sie unverhältnismäßig viel mehr Zeit aufwenden. Und doch schaffte sie es nur schwer, ihre Texte loszulassen. Ihr Perfektionismus stand ihr im Weg.
Die Ursachen für Perfektionismus sind unterschiedlich. Ein Elternteil, für den nichts gut genug war. Ein Lehrer, der nur die Fehler hervorhob. Menschen, die dem Kind das Gefühl vermittelten, es würde nicht geliebt, wenn es nicht perfekt ist. Irgendwann haben wir diese externen Stimmen verinnerlicht. Kurz: Wir haben einen zu strengen „inneren Kritiker“.
Der innere Kritiker ist die Stimme, die uns dazu bringt, an uns und unserer Leistung zu arbeiten. Ein zu lascher innerer Kritiker, der alles, was wir tun, super findet, verhindert, dass wir uns anstrengen.
Ein wohlwollender innerer Kritiker schaut realistisch auf unsere Leistung. Sagt uns, wo wir noch besser werden können, erkennt aber auch an, was wir schon gut machen und hilft uns so, unser Bestes zu geben.
Ein zu strenger innerer Kritiker hingegen lässt uns die 100 Prozent anstreben, obwohl wir bereits bei 98 Prozent sind. Natürlich führt dies oft zu sehr guten Ergebnissen. Aber es lässt uns auch zu viel Zeit aufwenden oder verhindert, dass wir etwas überhaupt anfangen, weil uns bewusst ist, dass wir es nicht perfekt machen können.
Den eigenen Perfektionismus zu überwinden, ist ein langfristiges Projekt. Es gilt, das eigene Gefühl zu überwinden und sich darauf einzulassen, dass „gut genug“ tatsächlich „gut genug“ ist; häufig ist es ja bereits „sehr gut“. Diese Erfahrung müssen wir viele Male machen, um die alten Gefühle mit der Zeit zu überschreiben.
Je nachdem, wie stark der Perfektionismus unser Leben beeinflusst, kann es sinnvoll sein, sich einen Coach oder Therapeuten zur Unterstützung zu suchen. Als Schreibberaterinnen konzentrieren wir uns auf ganz konkrete Tipps, die beim Schreiben helfen können.
Ihr Text ist fertig, wenn Sie darin das, was Sie sagen wollen, tatsächlich vermitteln und wenn dieser Text klar, verständlich, gerne auch ein bisschen anregend geschrieben ist. Er sollte für einen Leser nachvollziehbar strukturiert und – wenn die letzte Überarbeitung abgeschlossen ist – einmal konzentriert Korrektur gelesen worden sein. Fertig. Denn dann hat der Text meist ein Stadium erreicht, an dem Sie ihn auf Ihrem jetzigen Fähigkeits- und Kenntnisstand nur noch anders, aber nicht mehr unbedingt besser schreiben können. Die Schwierigkeit besteht darin, diesen Punkt nicht zu überschreiten.
Wir propagieren immer wieder, im Team zu schreiben. Dies kombiniert Stärken. Dies gilt auch und vielleicht sogar besonders für Perfektionisten. Denn hier kann die Partnerin regulierend auf den Perfektionismus des anderen einwirken.
Suchen Sie sich also jemand, der Ihnen Feedback auf Ihre Texte gibt – und vertrauen Sie auf dessen Kompetenz. Der Blick von außen, gerade weil er nicht durch Versagensängsten oder Anspruchsdenken getrübt wird, ist viel klarer und bringt zudem die Perspektive eines Lesers hinein.
Doch schon die Frage, wann ein Text gut genug für den Feedback-Partner ist, beantwortet sich für Perfektionisten schwierig. Um den richtigen Zeitpunkt zu finden, wann der Text zum Feedback-Partner soll, können die beiden folgenden Tipps helfen. Diese gelten natürlich auch (und gerade), wenn Sie keinen Feedback-Partner haben.
Setzen Sie sich einen konkreten Zeitpunkt, wann Ihr Text fertig zu sein hat: „Ich werde den Text am Freitag, um 12 Uhr abschicken.“ Wenn dieser Termin erreicht ist, schicken Sie den Text ab. Dieses Zeitlimit wird Sie unter den Druck setzen, den Text bis dahin fertig zu bekommen. Aber verhindern, dass Sie sich nicht von ihm lösen können.
Achtung: Dieser Tipp gilt für Perfektionisten. Also für die Menschen unter Ihnen, die sich nur schwer von ihren Texten lösen können und ihren Text zu diesem Zeitpunkt sicherlich bereits ein-, zwei- oder gar dreimal überarbeitet haben Wir sagen nicht, dass Sie einen Text einfach mitten in der Arbeit oder eine nicht überarbeitete Rohfassung Ihres Textes abgeben sollen.
Oftmals ist das Problem, dass man „nur noch einmal“ sichergehen will, alles poliert und korrigiert zu haben. Um aus dieser „Nur-noch-einmal-Spirale“ herauszukommen, sollten Sie sich eine konkrete Anzahl an Überarbeitungs- und Korrekturschleifen setzen.
Sie haben sich als Limit zwei Überarbeitungsschleifen und einmal Korrekturlesen gesetzt? Dann geben Sie den Text danach ab. Egal, wie Sie sich dabei fühlen. Überwinden Sie den Wunsch, nur noch einmal drüberzugehen, nur um sicher zu sein …
In den allermeisten Fällen wird es den Lesern nicht auffallen, dass Sie sich zwei weitere Überarbeitungs- und zwei Korrekturschleifen (und damit vielleicht drei Stunden Arbeit) gespart haben. Denn Ihr Text ist bereits „gut genug“. Mit der Zeit werden Sie Vertrauen entwickeln, dass „gut genug“ wirklich „gut genug“ ist.
Natürlich ist es möglich, dass einige eventuell hier und dort noch ein Leerzeichen zu viel finden und dies anmerken (schließlich sind sie so etwas von Ihnen nicht gewohnt). Aber reduziert dies wirklich den Wert Ihrer gesamten Arbeit? Nein. Und schon gar nicht Ihren Wert.
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen fröhliches Schreiben.
Auch Ihre Erfahrungen mit unseren Tipps können Sie uns ganz frei von der Leber weg und unperfekt schreiben. Wir freuen uns immer auf Ihr Feedback.
Herzlichst,
Nadja Buoyardane und Franziska Nauck